DAS DAUERN NACH DER PLÖTZLICHKEIT - TEIL 1 : ANKOMMEN

 

Blätter in allen Farben regnen an das Fenster. Verschiedene Oktaven des Windes sind zu hören. Die draußen wenig auffallende Wärme der Sonne mutiert durch den DDR-Baustil zu trockener Hitze. Die nicht weniger alte Heizung trägt sicherlich ihren Teil dazu bei. Auf dem nackten Küchentisch liegt ein A4-Blatt. Darauf sind acht eher wenig gefüllte, mit Computer geschriebene Zeilen zu sehen. Wie sich herausstellt, sind jene Informationen das Wesentliche, was der Sohn und der Bruder - laut eigener Aussage - über die kürzlich verstorbene Frau wussten. Über dreißig mütterliche und über fünfzig schwesterliche Jahre kondensiert in nicht mal einer Hand voll aufsummierter Zeilen.

 

Clemens wertet das nicht. Er dankt für die vorab gemachten Gedanken und das Verschriftlichen selbiger. Er versichert die beiden, dass das unter den Umständen nicht selbstverständlich ist. Außerdem sagt er, dass nichts zurückgehalten werden braucht. Was raus möchte, kann und soll raus. Vor allem betont er das wegen der Tränen, welche der Sohn immer wieder herunterzuschlucken scheint. „Die sind froh, wenn sie auch mal an die frische Luft kommen“, sagt er mit einem dezenten Lächeln, für dessen Wärme sich zumindest der Sohn mit lockerer Haltung dankbar zeigt. Allerdings denkt Clemens auch an bestimmte Gedanken, die aus verschiedenen Gründen, nicht selten wegen einer Form irgendwie empfundenen Anstands für sich behalten werden. Gerade, wenn (nur) Männer am Tisch sitzen, erleben wir oft getarnte Zurückhaltung, offensichtliche Unterdrückung bis hin zu wenig überzeugenden Inszenierungen von dem, was auch heute noch rumort und noch viel zu häufig allgemein aufgewertet wird mit „männlicher Stärke“. Männer scheinen ebenso des Klärens, (Neu-)Erfindens und Entwickelns ihres Daseins zu bedürfen wie Frauen hinsichtlich des ihren. So viel in aller Kürze dazu.

 

Der heutige Fall führt Clemens und mich in eine ländliche Gegend. Häuser mit mal mehr mal weniger penibel gepflegten Gärten reihen sich links und rechts des begradigten Bachlaufs aneinander. Hin und wieder reist eine herbstlich umwindete Heimat- oder Fußballflagge an aus den Gärten ragenden Masten. Die Straße ist grob geteert. Schlaglöcher wurden bestenfalls provisorisch gestopft. Schon die Auffahrt und das von dort einsehbare Grundstück zeugen von an Lebensjahren reicheren Leuten über sechzig, schätzt Clemens. Der Garten profitiert von der notdürftig scheinenden Pflege, mancher Busch verheißt noch ein herbstliches Festmahl für Insekten und Vögel. Clemens These bestätigt sich. Im Haus wohnt der 69-jährige Bruder, der seine 92-jährige Mutter pflegt. Diese erlitt, kurz nach dem sie vom Tod ihrer Tochter erfahren hatte, einen Schlaganfall. Der Sohn wohnte noch mit seiner Mutter zusammen und ist nunmehr allein in der kleinen Dreiraumwohnung, nicht unweit des Elternhauses.

 

Die Verstorbene war 61 Jahre geworden. Vom Bestattungshaus hatte Clemens noch keine näheren Angaben zum Tod der Frau bekommen. In einem passenden Moment fragt er die beiden Angehörigen, was passiert sei. Der Bruder, dessen Mimik die ganze Zeit starr aussieht, schweigt und starrt auf die Tischplatte. Sein Neffe thut es ihm gleich. Hin und wieder schaut er zu Clemens auf und beginnt zu erzählen: „Also, ich saß in meinem Zimmer. Da riss meine Mutter die Tür auf. Sie zeigte auf ihren Hals. Sie bekam keine Luft. Ich sollte nen Krankenwagen holen. Erst verwählte ich mich. Der Polizist leitete mich sofort an den Notarzt weiter. Ich legte meine Mutter hin. Als der Krankenwagen kam, machten sie stabile Seitenlage. Dann war sie bewusstlos. Sie versuchten sie zu reanimieren, immer wieder. Ging nicht. Sie zeigten mir die Leichenflecken. Vorbei:“ Während er sehr leise erzählt, räuspert er sich mehrfach und schluckt immer wieder deutlich hörbar. Selten sieht er auf. Es häufte sich seitdem er gemerkt hat, dass Clemens ihn umarmend anschaut, ohne Druck, voller Wertschätzung, ohne Verurteilung, voller Ruhe.

Tränen verdichten sich zunehmend am unteren Lid des Sohnes. Der Kampf, Weinen um jeden Preis zu verhindern, stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Der Bruder schweigt. Clemens betont, dass er so weit es möglich ist mit dem Sohn mitfühlt. Häufig berührt er in solchen Momenten während seiner Sätze die Schulter, den Arm oder ähnliches. In dem Fall lässt er es allerdings bleiben. Er ahnt, dass die kleinste Berührung den Widerstand in den Augen des Sohnes zu Fall brächte. Möglicherweise täte ihm das sogar gut, allerdings scheint es ihm auch wichtig zu sein, das gerade nicht zu zeigen. Das sind natürlich nur Hypothesen, die vor allem auf Basis von Erfahrungswerten gewichtet werden. Clemens nimmt sein Uebergangsbuch und macht sich ein paar Notizen. Das Geräusch eines rege über das Blatt schwirrenden Füllfederhalters verleiht dem Schweigen eine erträglichere Wirkung. Außerdem wird Schreiben von den meisten Personen, nachdem sie gesprochen haben, als würdigend empfunden. Plötzlich hält er inne, behält das Buch in der linke und den Füller in der rechten Hand, atmet tief ein und hebt zum Sprechen an: „Bevor wir gemeinsam durch das Leben von Karina ziehen, möchte ich Ihnen gern eine persönliche Frage stellen. Passt das für Sie?“

 

Anaïs R. D. H. Turmarkin-Hersch