Der Herbst bläst wieder kräftig. Unmengen an Blätter fallen und steigen. Die hin und wieder zwischen grauen Balustraden schimmernde Sonne schmeichelt allen Farben und wird von einigen Gesichtern augenscheinlich dankbar angenommen. Clemens machte sich zu einem Spaziergang über den Friedhof auf. Von der Uebergangshalle ist er hin und wieder zu sehen, da der Friedhof auf einem Hügel errichtet wurde. Allerdings ragen überall verschiedene Laub- und Nadelbäume wie ehrwürdige Säulen empor. Zwischen ihnen zeugt noch manche Gruft von 100- und 200-jährigen Sterbefällen. Heutzutage werden Grüfte zumeist als Urnenlager genutzt.
Es ist kurz vor halb eins. Clemens geht raschen Schritts gen dem Ort, an dem er schon des öfteren Reden halten durfte. In diesem Uebergangsfall wählten die Angehörigen eine Briefrede. Clemens redet also als die verstorbene Person. In diesem Fall eine Frau in den Mitfünfzigern. Die drei Söhne sind über die Anzahl der gekommenen Menschen durchaus überrascht. Nach dem ersten Musiktitel von Unheilig beginnt Clemens mit: „mein lieber Dirk, lieber Ingo mit Solveig, lieber …“. Schon bei dem Begrüßungsworten vergräbt sich der jüngste Sohn in seinem Schal. Der Älteste ist - wie schon im Gespräch - um Fassung bemüht und setzt seine Sonnenbrille nicht ab. Matthias, der mittlere Sohn der Verstorbenen ist gar nicht erst erschienen. Die Brüder reden nicht darüber. Augenscheinlich wie ohrenlauschig sind die meisten sehr bewegt. Persönliches angesprochen werden, beschwört vereinzelt nickendes Lächeln, welches im Moment zunehmender Strahlkraft in einen tränenreichen Ausdruck übergeht. So golden können Tränen funkeln.
„Eure Frau, Mutter, Schwiegermutter, Oma, Schwester, Cousine, Kollegin und Freundin, Eure Giggi“, gehen mit Clemens Verbeugung in ein Lied der Bee Gees über. Clemens zieht sich leise hinter der Uebergangsgesellschaft den Mantel an, packt die Rede weg und lächelt dem Friedhofsmitarbeiter zu. Dieser erwidert es aufstehend und stellt sich neben Clemens. Nach den letzten Klängen schreiten sie gemeinsam vor, Clemens bittet um den gemeinsamen Gang und Heiko nimmt die Urne auf. Beide schreiten sie aus der Uebergangshalle ins feinherbstliche Gestürm. Die Angehörigen und Erschienenen laufen mit Blumenschmuck aller Farben hintere ihnen. Clemens verlangsamt seinen Schritt. Heiko tut es ihm gleich, möglicherweise unterbewusst. „Wir sind zu schnell“ sagt er plötzlich. Clemens dreht sich um. Selbst das Langsamere war noch zu eilig. „Wohl wahr, das gleicht ebenso einer Beschreibung des Alltags.“. Er lacht. Und indem er lachte, kam das heraus, was Clemens zuvor sah und Heiko rege zu unterdrücken versuchte. Er weinte. Clemens streichelt ihm freundschaftlich leicht über den Rücken. Eine derart leichte Berührung wirkt in solchen Momente, wenn wohlgesonnen, angemessen und zugelassen, sehr mächtig. Eine Berührung sagt mehr als tausend Bilder. Heiko nimmt es dankbar an, sowohl die Berührung als auch das Schweigen.
Clemens weiß, dass Heiko die beigesetzte Person nicht kennt. Vor der Beisetzung unterhielten sie sich rege. Der fleißige Friedhofsmeister war locker aufgelegt. Über alle persönlichen Verknüpfungen hinaus ist eine Uebergangsfeier eben eine Uebergangsfeier; ggf. ein sehr emotional ausnehmende Krisensituation, die selbst Fremde bewegen und berühren kann. Ein Ereignis, was alte Erlebnisse und Erinnerungen wieder heraufbeschwört oder dankbar von einem Lebensgefühl aufgenommen wird, dass sich endlich „legitim“ Ausdruck verleihen kann. Es gibt unzählige Möglichkeiten und alle sind berechtigt, alle sind wichtig und anerkennenswert. Auch Clemens Augen nahmen daran Anklang. Er ließ es geschehen. Mittlerweile kann er das.
Anaïs R. D. H. Turmarkin-Hersch