AUSLAUFEN NACH EI'M ÜBERGANGSGESPRÄCH #1

 

Die Dämmerung zeichnet sich in feinsten Blautönen von Ost nach West ab. Ein zarter Gelbton möchte auch erkannt werden. Ein Werther-Abend also. Die Siedlung aus Einfamilienhäusern scheint schon zu schlummern. Es wirkt als hörten die dunkel konturierten Dächer dem noch dunkler konturierten Berg hinten zu, wie er ein Schlaflied sing, gekrönt durch das Schlummerlicht auf dessen Gipfel, eine alte Burg. Die in dessen Richtung verlaufende Asphaltstraße wirkt wie von feinem Nebel heimgesucht, der die Luft dank der gelblich leuchtenden Laternen beinahe mystisch schattiert. Ein lauter werdendes Geräusch lüftet das Rätsel, denn mit mehreren Scheinwerfern zeugt ein beständig arbeitendes Landmaschinenfahrzeug von einem fleißigen Bauern und folglich von gedroschenem Staub. In der Tat ist es sehr schwül, zu trocken sowie so. Sich daran zu gewöhnen, wäre ein gefährlicher, aber bequemer Pfad. Noch fällt es Jonas auf.

 

 

 

Er läuft gerade mit seinem Fahrrad gen des Berges. Vorn im Korb scheppert seine Tasche hin und her. Seine lange, schwarze Hose sorgt für unangenehme Wärme, die das endlich wieder aufgeknöpfte Hemd auszugleichen versucht. Sein Blick wirkt wie immer scharf. Sein Gesicht wie immer gezeichnet. Die Augenringe wirken wie ein speziell geformtes Ufer, an dessen Wasserrand sich eine Blaualge ausbreitet. In beiden Fällen zu Recht. Gerade läuft er noch. Nach dem Gespräch möchte er nicht sofort wieder den Gang, die Bewegung beschleunigen. Auslaufen braucht es sowohl nach dem sportliche als auch nach geistigen Tätigkeiten. Viele Gedanken schwirren durch seinen Kopf. Unterschiedliche Bereiche geraten dadurch temporär in Verbindung. Zugleich fliegt alles schlicht durcheinander, wie durch einen Zyklon aufgebracht. Im Auge des Sturms ist es nicht nur ruhig, sondern voll drum rum schwirrender Gegenstände.

 

 

 

Gerade kommt er von einem Übergangsgespräch. Es dauerte länger als vermutet. Dagegen ist nichts einzuwenden, auch wenn die Tage gerade allgemein nicht nur warm, sondern auch sehr voll sind. Die sich nun durch Folgen Ausdruck verleihende Anstrengung entstand vor allem durch das Ungesagte im Raum. Zunächst nahm er an, dass dieses Unausgesprochene lediglich das Stimmungsbild ist, weil die meisten vor solch einem Übergangsgespräch nicht nur Respekt, sondern auch Furcht spüren. Als es allerdings nicht verschwunden war, bildete sich als nächste Hypothese eine besonders intensive Trauer aller am Übergangsgespräch Beteiligten. Doch wie das Aufgewirbelte jenes gedroschenen Feldes eröffnete sich nach zwei Stunden intensivster, sehr detailreicher Unterhaltung eine ganz andere Seite der verstorbenen Person. Plötzlich spürte Jonas, wie sich die Beschaffenheit dieses Unausgesprochenen veränderte. Der Druck wuchs. Drosch auf den Schädel. War nicht mehr lange auszuhalten. Jonas begann stärker zu moderieren.

 

 

 

Bald war das Ende des ersten Gespräches erreicht. Alle waren unterdessen in ihren Sitzen etwas eingesunken. Vor allem die Körper der längst erwachsenen Kinder verloren an Spannung, die Mimik erschlaffte, die auch in den Raum schleichende Dämmerung verlieh dem noch mehr Ausdruck. Selten schien die geflügelte Wortgruppe, der sich verfinsternden Miene so eindrucksvoll visualisiert durch wenige Schattenspiele. Jonas entschloss sich seinen Eindruck auszusprechen. Alle Angehörigen stimmten nickend ohne ein Wort ein. Leises Ausatmen ist zuhören. Ein Ausdruck leichter Entlastung huscht über die Gesichter. Jonas spürt das heute nicht mehr drin ist. Daher entscheidet er sich der Familie zu danken und seinen Eindruck der Familie in wenigen, dafür sehr trefflichen Worten zusammenzufassen. Dankbar wird er entlassen. Ein geschafftes Lächeln zieht über die nun deutlich müden Gesichter. Es gleicht einer Verbeugung nach der Reise durch ein ganzes Leben.

 

 

 

Auch Jonas zieht geschafften Lächelns in den betagten Abend. Gedankenvoll lauscht er dem Schlummerlied des Berges. Nach und nach vergeht er in den dunklen Konturen und wird ein Teil der schreitenden Nacht.

 

 

 

geschrieben von Tom Hohlfeld

 

Wer solche Texte fördern und die Natur dabei unterstützen möchte, darf gern ein Teil der wachsenden Gemeinschaft von Tom Hohlfelds Pilotprojekt des "Naturschutz-Kunst-Transfers" (www.patreon.com/tohox) werden. Vielen Dank.