
Der Raum ist von schwummrigen Licht erfüllt. Ein Nebeneffekt der Jalousien, die mehr oder weniger erfolgreich das Eindringen der Wärme verhindern sollen. Andere Möglichkeiten der Raumklimatisierung sind nicht vorgesehen. Vielen Pflegeeinrichtungen fehlen dafür schlicht die Mittel. Genauso allumfassend wie das Licht verhält es sich mit dem Geruch. Sicherlich ließe er sich in seine Bestandteile zerlegen, doch darum geht es nicht. Dieser Geruch begegnete mir schon oft. Darin liegt eine bislang noch nicht ganz zutreffende Nuance, die auf unvergleichliche Weise ausdrückt, dass die Zeit der Person bald gekommen sein wird. Rational kann ich das nicht erklären. Überhaupt bleibt vieles im Kontext des Sterbens von der oft geheiligten Rationalität unangetastet. Ganz im Gegenteil, die Vollblutrationalisten stoßen teils hart an ihre Grenzen, da auch sie nicht selten etwas völlig Unerklärliches erleben. Das Hören einer Stimme. Das Träumen eines wenig später eintretenden Ereignisses. Das plötzliche Gefühl, dass etwas passiert sei, und nur wenig später der dies bestätigende Anruf eingeht.
Diesem Geruch begegnend, schreite ich in den Raum einer 87-jährigen Dame, Ingeburg. Der Grund unseres Treffens ist die Übergangsrede, die ich für Ihren jüngst verstorbenen Ehemann schreiben darf. Die Schwester des Verstorben und ein Neffe sind auch dabei. Wir gleiten gemeinsam durch sein Leben und natürlich auch das, der beiden. 67 Jahre waren sie verheiratet. 67 Jahre. In zwei Monaten wäre bzw. ist der Hochzeitstag. Je älter die Menschen sind, mit denen ich spreche, desto mehr fällt mir auf, wie anstrengend und auslaugend Erinnern sein kann, das Reisen durch ein ganzes Menschenleben mit all den Höhen und all den Tiefen, viel gemeinsamen Lachen und mancher Träne. Beeindruckend. Sehr beeindruckend.
Wir kommen im Anschluss zum Organisatorischen. Die Angehörigen erzählen mir, wie sie schon alles geplant haben, was den Transport der Ehefrau zum Friedhof angeht. Ich höre aufmerksam zu. Schaue ab und an zu den Redenden, dann zur Ehefrau. Ich weiß, wie wichtig es ihr wäre, dort zu sein. Aus vielerlei Gründen. Aber ich spüre eben auch, dass dazu die Kraft nicht mehr reichen wird. Wie soll ich damit umgehen?
Ich entschließe mich auf mein Bauchgefühl zu hören und spreche es an. Ich gebe ihnen Recht, dass es total wichtig wäre, wenn sie der Übergangszeremonie beiwohnte, doch ebenso wichtig ist es zu schauen, wie es um Ihre Kräfte beschaffen ist. Dann passiert etwas Überraschendes. Ingeburg meldet sich zu Wort und schließt sich mir an, sowohl was ihren Zustand als auch meine Idee anbelangt, dass ich Rede als Hörbuch aufzeichne und die engsten Angehörigen eine Art 'kleine Übergangszeremonie' mit ihr in ihrem Zimmer durchführen. Sie lächelt sogar dabei, was einen, wie schon während unseres Gespräches, total einnimmt, da der Kontrast zum sonst erschlafften Gesicht immens ist.
Wir einigen uns auf diese Lösung. Wir verabschieden uns. Doch irgendwie möchte ich noch nicht so richtig gehen. Daher bleibe ich im Zimmer. Versinke in der Ruhe, indessen Ingeburg schläft. Kein Auto fährt auf der Nebenstraße der Nebenstraße der Nebenstraße. Die Türen müssen schalldicht sein, oder es ist tatsächlich so still. Ich überlege etwas zu lesen. Doch wieso noch mehr in die Birne kippen? Ich durchlebte gerade in über zwei Stunden 89 Jahre zusammen. Es konserviert. Ganz bewegt von vielen kleinen, zunächst unscheinbaren, aber auch großen, einnehmenden Momenten. Ruhe wirklich auszuhalten, nein, anzunehmen und zu sein, scheint einer sich durchaus disziplinierenden Herausforderung zu entsprechen.
Nach einer Stunde wacht Ingeburg auf. Sie lächelt als sie mich sieht. Ich reiche ihr ein Glas Wasser, frage, ob ich einen Kuchen holen soll, da ich nicht sicher war, ob das Vespern in Pflegeeinrichtungen zelebriert wird, und ich ja weiß, dass es vor allem an Lebensjahren reichere Menschen meist mögen. Sie verneint und wir vertiefen uns mehrere Stunden in ein bzw. ihr Leben, ihre Erfahrungen, ihre Erkenntnissen und Gedanken. Wir lachen, weinen, schweigen. Mein Stift rast. Mein Stift ruht. Es ist wahrlich ein Gespräch des Übergangs. Ein Gespräch der Überfahrt, wie eine Zwischenwelt.
Dankbar verabschieden wir uns. Sie lächelt noch kräftiger als zuvor, hebt sogar die Hand zu einem typischen Omawinken, dieses Auf- und Zuschnappen der Hand wie bei einem alten Blutdruckmessgerät. Lächelnd schreite ich durch den langen, gelben Flur. Nicht wissend, aber ahnend, dass ich bald schon wieder mit der Familie zusammensitzen werde. Denn in der Nacht nach der 'kleinen Übergangszeremonie‘ machte sie sich friedlich einschlaufend zu ihrem Mann und all den anderen schon vorausgegangen Verwandten und Freunden auf.
Danke Ingeburg
& gute Reise
Der zweiten Teil wird von der genauen Durchführung der Übergangszeremonie in Ingeburgs Zimmer handeln. Außerdem wird es einige Inhalte unseres anschließenden Gespräches in der Reihe 'WEISE BLÜH'N DIE STERBLICHEN' geben, in der die Erkenntnisse und Gedanken Sterbender für alle geteilt werden.